AVIVA-Berlin >
Kunst + Kultur
AVIVA-BERLIN.de im November 2024 -
Beitrag vom 26.03.2013
Dear Reader - Rivonia
Nele Herzog
Cherilyn McNeil musste sich erst beruflich und privat von ihrem Freund Darryl Tor trennen, damit die Indiefolk-Band "Dear Reader" als Soloprojekt zu heutiger Höchstform auflaufen konnte.
Mit ihrem ersten alleine produzierten Album "Idealistic Animals" weitete McNeil bereits 2011 die bisherige Thematik der Songs. Aus leisen, pianobegleiteten Trennungsschmerz-Melodien wurden humoristische Indie-Folkhymnen. Während sich Ex-Partner Torr und der Produzent Brent Knopf um die Produktion der Vorgängeralben gekümmert hatten, wagte Cherilyn nun für ihr zweites Soloprojekt "Rivonia" etwas Neues: Sie betrat die Berliner Niederlassung ihrer deutschen Plattenfirma "City Slang" (einige der LabelkollegInnen von Dear Reader sind Nada Surf, CocoRosie und Stars) und kündigte an, ein minimalistisches Album über ihre Heimat im Alleingang produzieren zu wollen, schrieb und arrangierte alle Songs, bevor die Arbeit im Studio überhaupt begonnen hatte. Die Plattenfirma ließ ihr glücklicherweise freie Hand, denn was McNeil in den folgenden Monaten in Eigenregie, mithilfe einiger der besten MusikerInnen Deutschlands, vieler FreundInnen und dem Brooklyner Musikmixer Eli Crews zusammenstellte, ist beeindruckend. Die Künstlerin hat sich ihre Platte ausgemalt, sie diesen Vorstellungen entsprechend vorproduziert und im finalisierenden Arbeitsprozess ihre Produkte durch Inputs von verschiedenen, separat aufgenommenen Chorstimmen, einer Holzbläserfamilie aus Leipzig und dem Drummer Earl Pervins (Mitglied des Labelkollegen "Tindersticks") perfektioniert.
Das Thema und die Klangfarbe des Albums, welches problemlos den Soundtrack für ein Indie-Folklore Musical stellen könnte, erschweren den Glauben daran, dass es hauptsächlich an Küchentischen und in feuchten Kellern in Berlin-Neukölln entstanden ist. Oboe, Fagott, Trompete, Geige, Drums und Pauke untermauern eine mal anklagende, dann wieder zirpende Stimme, die Geschichten aus einer anderen Zeit, von einem anderen Ort hervorholt. Der Umzug nach Berlin eröffnete der 30-Jährigen eine völlig neue Perspektive auf die Geschichte ihres Heimatlandes. Sie bemerkte, dass sie nicht ausreichend Wissen parat hatte um die neugierigen Fragen ihrer neuen FreundInnen nach ihrem Herkunftsland Südafrika und dessen Kultur beantworten zu können. Daraufhin begann sie im Internet historische Daten und Fakten zu recherchieren und wurde dabei teilweise von einzelnen Wörtern zu ganzen Songtexten und Melodien inspiriert.
McNeil fand auch heraus, dass die Mitglieder des regierungskritischen, revolutionären African National Congress um Nelson Mandela während ihrer Grundschulzeit im kleinen Ort Rivonia im Norden von Johannisburg, direkt um die Ecke ihres Schulgebäudes, verhaftet worden waren. Rückblickend verarbeitete sie ihre Gefühle in Bezug auf dieses Ereignis in dem Song "Took them away":
"We were playing in the yard/ I saw them in the barn/ White and black together sad, I just stood and stayed/How was I to know what it all meant? (...)/So they came in the Dry-Cleaning-Van and they took them away/ took them away/One dog and a dozen strong men and they took them away
Schon 2011 sprach die damals frischgebackene Berlinerin im Interview anlässlich der Veröffentlichung von "Idealistic Animals" mit AVIVA über ihre Sicht auf die Schreckensherrschaft der Apartheid und die aktuelle Situation in ihrer Heimat:
"Meine Eltern haben mit mir darüber nicht viel gesprochen. Erst später wurden mir die Veränderungen bewusster. Es hat sich alles mehr durchmischt und durch die Schule habe ich schwarze Kinder kennen gelernt. Die politische Entwicklung in Südafrika ist sehr kompliziert und die Auswirkungen des Apartheids-Regimes sind leider noch spürbar, vor allem in den Unterschieden zwischen Arm und Reich."
Dem glorreichen Tag der ersten freien Wahlen nach dem Sturz des rassistischen Apartheidregimes widmete McNeil den emotionalen Lied "27.04.1994":
"What does it mean, what does it mean, the thumbs are blue and the ballots are green, and Nancy and Sarah are singing Hosanna"
"Rivonia" endet mit einem großartig vertonten A-Capella-Song namens "Victory", dessen Choralstimmen zwar simpel aufeinandergeschichtet sind, aber tatsächlich das Bild von singenden Soldaten an der Front im Kopf der HörerInnen erschaffen. Die Stimmen wurden von einzelnen Menschen separat eingesungen ohne dass die jeweiligen SängerInnen zu irgendeinem Zeitpunkt wussten, wie das Lied am Ende klingen soll. Cherilyn setzte die Puzzleteile schließlich ihren detaillierten Vorstellungen entsprechend zu Songs zusammen.
Konzeptalbum, Folklore, Holzbläser: Zusammenhangslos aufgelistet rufen diese Wörter keine allzu positiven Assoziationen hervor. Cherilyn McNeil macht jedoch nicht nur ihre persönliche Sichtweise auf ein wichtiges Stück Weltgeschichte zum hörenswerten Kulturgut, sondern entstaubt ganz nebenbei den Folk indem sie ausgerechnet den sprichwörtlich eher negativ konnotierten Pauken und Trompeten eine Chance gab und diese klug für ihre Sache einzunehmen wusste. Obwohl McNeil nicht den Anspruch erhebt, die Geschichte ihres Landes musikalisch für eine Gesamtheit aufarbeiten zu wollen, setzt sie ein nachdrückliches Zeichen gegen Vergessenheit und Ignoranz: Ihre Musik macht das nicht Hinhören nahezu unmöglich.
AVIVA-Tipp: "Rivonia" zaubert trotz thematischer Schwere nicht nur Geschichtsinteressierten und Indie-Fans ein Lächeln aufs Gesicht. Soviel lyrisches Feingefühl und Geschick für Arrangements sind bittersüße Beweise dafür, dass Cherilyn McNeils privater Trennungsschmerz letztlich extrem positive Entwicklungen nach sich gezogen hat. Mensch kann gespannt sein, was diese Frau noch so in petto hat.
Dear Reader
Rivonia
VÖ: 05.04.2013
Label: City Slang
www.cityslang.com
Mehr zu Dear Reader unter:
www.dearreadermusic.com
Dear Reader auf YouTube
Dear Reader auf Facebook
Weiterhören auf AVIVA-Berlin:
Dear Reader – Idealistic Animals
Interview mit Cherilyn McNeil zum Release von "Idealistic Animals"
Dear Reader – Replace Why With Funny